Fräulein Julie

Bei der 1888 erschienen Tragödie “Fräulein Julie” handelt es sich um ein naturalistisches Trauerspiel von August Strindberg (1849-1912). Ich las dieses Stück auf Empfehlung meines Deutsch-Lehrers.

Fräulein Julie, exzentrische Tochter eines Grafen, ist 25 Jahre alt, als sie sich in einer Mitsommernacht dem fünf Jahre älteren Diener Jean hingibt. Durch den Klassenunterschied scheint sie ihn zwar überlegen, er jedoch ist gebildet und bereits viel in der Welt umher gereist. Auf diese Weise schafft er es, die junge Frau so weit zu manipulieren, dass sie sich schließlich in Anbetracht der Ausweglosigkeit ihrer Situation, der Schmach, mit einem Untergebenen geschlafen zu haben, umbringt.

Zunächst einmal muss ich gestehen, dass ich den buchstäblichen Höhepunkt der Geschichte beim ersten Lesen einfach überlesen habe. Die “Stumme Szene”, die so unschuldig zwischen Auftritt und Abgang der beiden Protagonisten steckt, beinhaltet den Aufhänger für den folgenden Konflikt.

Nachdem Julie ihre Verlobung mit einem jungen Mann von guter Herkunft gelöst hat, tanzt sie in der Johannisnacht (Mitsommernacht) mit den Untergebenen des Hauses ihres Vaters, der sich auf Reisen befindet. Dabei wird sie auf den Diener Jean aufmerksam, der sich jedoch in einer Liebesbeziehung mit der Köchin Christine befindet. Durch ihr forsches Auftreten lockt Julie Jean aus seiner höflichen Zurückhaltung. Die beiden unterhalten sich zunächst, trinken zusammen und verschwinden dann in Jeans Zimmer, während die anderen Diener bereits Spottlieder über das Pärchen singen.

Nach der gemeinsamen Nacht planen Jean und Julie eine gemeinsame Zukunft, nur um sich dann gegenseitig ihre Schamlosigkeit und Schande vorzuwerfen. Sie befinden sich in einer merkwürdigen Konfliktsituation aus Selbstvorwürfen, Hass, Zuneigung, Leidenschaft und Verzweiflung. Jean, der bereits seit geraumer Zeit Interesse an Julie gezeigt hatte, fühlt sich nun obgleich der einfachen Eroberung ernüchtert und sieht sich ihr gegenüber nun (mindestens) gleichwertig.

“Aber es peinigt mich andererseits, gesehen zu haben, daß das, wonach ich strebte, nichts Höheres, Solideres war; es peinigt mich, Sie so tief gesunken zu sehen, daß Sie weit unter Ihrer Köchin stehen: es peinigt mich zu sehen, wie die Herbstblumen von dem Regen zerschlagen und in Schmutz verwandelt werden.”
(Fräulein Julie, August Strindberg, S.44)

Julie beginnt, über die Konseqenzen ihrer Handlung nachzudenken und sieht sich ein einer ausweglosen Lage. Sie sinniert über ihre Eltern und ihre Erziehung, die stark von ihrer Mutter geprägt war, die darauf bestand, dass man sie wie einen Jungen erziehe.

“Nun sollte ich von meiner Mutter zu einem Naturkind erzogen werden und zudem sollte ich alles lernen dürfen, was ein Junge zu lernen bekommt, damit ich ein Beispiel liefern
könnte dafür, daß das Weib ebenso gut wäre, wie der Mann.”
(Fräulein Julie, August Strindberg, S.46)

Über die Idee, zusammen durchzubrennen und in der Schweiz ein Hotel zu eröffnen, geraten die beiden erneut in Streit, wobei auch die Frage nach dem “warum” eine Rolle spielt. Liebe oder Leidenschaft?

“Fräulein Julie, Sie sind ein herrliches Weib, allzu gut für einen Menschen wie mich! Sie sind die Beute eines Rausches gewesen, und Sie wollen den Fehler dadurch verdecken, daß Sie sich einbilden, Sie lieben mich! Das thun Sie aber nicht, es sei denn, daß Sie vielleicht nur mein Äußeres verlockt — und dann ist Ihre Liebe nicht besser, als die meinige; aber ich kann mich niemals damit begnügen, für Sie ein bloßes Tier zu sein, und Ihre Liebe kann ich nicht erringen.”
(Fräulein Julie, August Strindberg, S.44-45)

Christine wacht unterdessen auf und findet Jean in einem recht verwirrten Zustand in der Küche auf. Jean berichtet ihr, dass er sich mit Julie unterhalten habe. Ihre Reaktion darauf ist geprägt von engstirnigem Festhalten an Standeskonventionen, mehr als von Eifersucht.

“Jean. Du bist doch wohl nicht eifersüchtig auf sie?
Christine
. Nein, nicht auf sie! Wenn es Klara oder Sophie gewesen wäre, ja! Das arme Mädchen! Nein, weißt du was, ich will hier nicht länger im Hause bleiben, wenn man vor seiner Herrschaft keinen Respekt mehr haben kann.”
(Fräulein Julie, August Strindberg, S.53)

Auch als sie von Fräulein Julie, das Schutz bei ihr sucht, die ganze Geschichte erfährt, verhält sie sich nach wie vor loyal gegenüber Jean, den sie zu heiraten gedenkt. Ihre ganze Ablehung gilt Julie, die sich, ihrer Meinung nach, “unter ihrem Stand” hergegeben habe. Fräulein Julie träumt währenddessen den Traum des eigenen Hotels weiter und bezieht Christine sogar mit in ihre Überlegungen ein. Als Christine wieder verschwindet und der Graf zurückkehrt, geraten Jean und Julie erneut in große Aufregung und kehren ernüchtert in die Realität zurück. Bei dem bloßen Gedanken an den Grafen fällt Jean wieder zurück in die Rolle des unterwürfigen “Lakaien”. Julie erbittet sich von ihm die Absolution oder vielmehr den Befehl, sich umzubringen und verschwindet schließlich in die Scheune, wo sie sich mit einem Messer die Kehle aufschlitzen will.

“Julie. Das ist wahr! — Ich bin unter den Allerletzten; ich bin die Letzte! O — Aber nun kann ich nicht gehen — Sagen Sie noch einmal, daß ich gehen soll!
Jean
. Nein, jetzt kann ich es auch nicht mehr! Ich kann nicht!
Julie
. Und die Ersten sollen die Letzten sein!
Jean
. Denken Sie nicht! Denken Sie nicht! Sie rauben auch mir alle Kraft, sodaß ich feig werde! Was! Ich glaube, die Glocke bewegte sich! Nein! — Sollen wir Papier hineinstecken! — So bang vor dem Ton einer Glocke zu sein! — Ja, aber das ist nicht nur eine Glocke — es sitzt jemand dahinter — eine Hand setzt sie in Bewegung — und etwas anderes setzt die Hand in Bewegung — aber halten Sie sich nur die Ohren zu! Ja, dann klingelt es noch schlimmer! klingelt, bis man Antwort giebt — und dann ist es zu spät! und dann kommt der Schulze — und dann —
Es wird zweimal stark geläutet.
Jean
fährt zusammen; dann richtet er sich auf. Es ist entsetzlich! Aber es giebt keinen andern Ausweg! — — — Gehen Sie! —
Julie
geht festen Schrittes zur Thüre hinaus.”
(Fräulein Julie, August Strindberg, S.63)

So endet die Veranstaltung. Und hinterlässt mich als Zuschauer oder Leser in diesem Fall nicht gänzlich überzeugt zurück. Nicht gänzlich überzeugt bin ich nämlich, dass ich die Aussageabsicht des Autors erfasst habe. Ich kann mir nicht helfen, aber ich bin weder bereit, dem Wikipedia-Vorschlag der Beurteilung Jeans als gänzlich manipulativen Charakters zu folgen (“Er manipuliert sie und erreicht, dass sie zum Schluss seinen Wünschen folgt.” – Wikipedia über die Figur Jean in Strindbergs Fräulein Julie), noch sehe ich Veranlassung zu der Schlussfolgerung, Julie handele vollkommen unabhängig von ihm. Es mag sein, dass ich ein verklärtes Verständnis von der Person Jeans habe, aber seine Behauptungen, sich in Julie verliebt zu haben erscheinen mir nicht allzu weit hergeholt. Auch wenn er zugibt, dass er sich diese Geschichte bloß ausgedacht habe um sie “rumzukriegen”, glaube ich nicht, dass er bloß von dem Wunsch getrieben ist, gesellschaftlich aufzusteigen und durch die Verführung Julies seine Macht ihr gegenüber ausspielen möchte.

Zurück zur Aussageabsicht.
Geht es darum, dass Leidenschaft keine Standes- Alters- oder Vernunftgrenzen kennt? Geht es überhaupt um Leidenschaft, geht es nicht vielleicht um Liebe?

Zunächst sei gesagt, dass ich ein recht unromantischer Mensch bin. Darum gefällt mir besonders Jean, der nicht nur erläutert, dass sein Begehren ihm unbefriedigt mehr wert schien, sondern auch den Begriff der Liebe als Grundlage ihrer Verbindung in Frage stellt wenn nicht ausschließt. Ich finde es sehr erfrischend, dass er nicht etwa das alte Motiv der ewigen und unantastbaren Liebe strapaziert, sondern klar fleischliche Gelüste als Ursache der gemeinsamen Nacht ausmacht.

“Aber es peinigt mich andererseits, gesehen zu haben, daß das, wonach ich strebte, nichts Höheres, Solideres war; es peinigt mich, Sie so tief gesunken zu sehen, daß Sie weit unter Ihrer Köchin stehen: es peinigt mich zu sehen, wie die Herbstblumen von dem Regen zerschlagen und in Schmutz verwandelt werden.”
(Fräulein Julie, August Strindberg, S.43)

Julie ist mir wesentlich unsympathischer als Jean. Sie scheint mir inkonsequent und wenig eigenständig zu sein und überdies nicht ganz bei Verstand. Die Angelegenheit mit dem Verstnd (sie lässt ihren Verlobten über eine Reiterpeitsche hüpfen, um ihre Überlegenheit und Unabhängigkeit zu demonstrieren) könnte ich ihr noch gut verzeihen, wenn sie nicht so unheimlich theatralisch und dumm wäre. Freilich, man unterschätze nicht die Wirkung von Alkohol – auch Jean rät ihr vom Trinken ab, es sei “gemein” – doch auch ohne den Einfluss von Alkohol zeigt das Fräulein ein unverhohlenes Interesse an dem Diener. Zunächst aufgrund seines wohl sehr ansprechenden äußeren Erscheinungsbildes, später auch wegen seiner offenkundigen Bildung, die sie bei einem Diener nicht erwartet hätte. Ihre Vorstellungen, die sie von anderen Menschen hat sind dehr beschränkt und stützen sich auf Stereotype und Verallgemeinerungen. Wenn eine Erwartungshaltung für sie nicht bedient wird, bringt sie das aus dem Konzept. Dies ist ein wichtiger Faktor für die Anziehungskraft, die Jean auf sie ausübt.

Nach der gemeinsamen Nacht wirft sie Jean seine gesellschaftliche Position vor, was wenig sinnvoll ist, da er diese nun einmal nicht ändern kann und ihre Entscheidung, mit ihm zu schlafen meiner Meinung nach auch stark von dem Reiz des Verbotenen, der davon ausgeht, geprägt war. Anstatt sich ihres Lebens zu freuen klagt sie später bloß und lässt sich von Jean in unrealistische Traumwelten entführen. Meiner Meinung nach hat sie einfach nicht den Mut, Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen.

Besonders die Art ihrer Erziehung, die sie des öfteren erwähnt, sollte eigentlich zu einem unabhängigen Charakter führen. Dass dies nicht der Fall ist, nehme ich als Beweis für meine These, dass Julie sich aus Feigheit umbringt. Sie ist nicht bereit, einmal in ihrem Leben für etwas einzustehen und lässt lieber ihren Vogel köpfen anstatt sich wie ein vernünftiger Mensch mit möglichen (realistischen) Konfliktlösungen zu beschäftigen. Sie befindet sich in keiner klassich dramatischen Situation, führt sich dafür aber pathetisch genung auf, um Zuschauer sowie Jean von der Ausweglosigkeit ihrer Lage zu überzeugen.

 

Quelle und Text: http://www.gutenberg.org/files/22235/22235-h/22235-h.htm

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