Fräulein Else

Die etwa 80-seitige Novelle “Fräulein Else”, geschrieben 1924 von Arthur Schnitzler musste ich im Rahmen der Abiturvorbereitung meines Deutsch-LKs lesen. Besondere Beachtung galt dabei der Erzähltechnik, welche sich – ähnlich wie bei dem früheren Werk “Leutnant Gustl” – als eine Mischung aus innerem Monolog sowie Bewusstseinsstrom charakterisiert werden kann.

Else ist etwa 19 Jahre alt, Tochter eines jüdischen Anwalts die ihre Ferien in Italien bei ihrer Tante verbringt. Ihre Familie ist aufgrund der Veruntreuung von Mündelgeldern seitens des Vatern in finanziellen Schwierigkeiten. Als junges und attraktives Mädchen wird Else von ihrer Mutter in einem Eilbrief gebeten, bei einem alten Bekannten, einem Kunsthändler namens “Dorsday” vorzusprechen, um von ihm ein Darlehen von 30.000 Gulden zu erwirken. Else schämt sich zwar, bittet Herrn Dorsday jedoch trotzdem bei einem Spaziergang um diese Summe, die innerhalb von drei Tagen auf das Konto ihres Vaters überwiesen werden muss, um ihn vor dem Zuchthaus zu retten. Dorsday willigt ein – unter der Voraussetzung, dass er Else eine Viertelstunde “in Andacht Ihrer Schönheit” betrachten darf. Dass “Schönheit” ganz einfach so viel bedeutet wie “nackt” ist Else ziemlich schnell klar.

Von diesem Moment an befindet sie sich in einer Dilemma-Situation. Kommt sie der Forderung Dorsdays nicht nach, kann sie gleichzeitig auch ihrer vermeintlichen familiären Pflicht nicht nachkommen und die Ehre ihrer Familie ist der öffentlichen Schande ausgeliefert. Folgt sie Dorsdays “Angebot”, verabschiedet sie sich damit von ihrer eigenen Würde.

Die ohnehin etwas labile Else wird durch diesen inneren Konflikt gänzlich aus der Bahn geworfen. (Oh schlechte Metapher) Nach einem Traum voller Vorausdeutungen und Symbolen – Arthur Schnitzler beschäftigte sich mit Freuds Theorien, unter anderem der Traumdeutung – kehrt sie ins Hotel zurück, wo sie schon zum Diner erwartet wird. Sie zieht sich auf ihr Zimmer zurück und versinkt in möglichen Lösungsszenarien, von der Idee, unbekleidet in die Hotellounge zu treten bis hin zu Selbstmord. So löst sie eine Packung Veronal-Schlaftabletten in einem Glas Wasser und begibt sich – bekleidet bloß mit einem Mantel – in das Musikzimmer des Hotels, wo eine junge Dame Klavier spielt. Dort fällt sie in Ohnmacht und wird in ihr Zimmer getragen. Spätestens ab da werden ihre Gedanken immer undeutlicher. Sie ist durchaus bei Bewusstsein, täuscht jedoch anhaltende Ohnmacht vor. Ihr Bewusstseinsgrad nimmt jedoch im gleichen Maße wie ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion ab.

Der gewählte Vermittlungsmodus sorgt dafür, dass sich der Leser scheinbar ohne Filterung durch den Erzähler mit der Figur der Else auseinandersetzen kann. Natürlich sind Elses Gedanken, so wirr sie manchmal auch scheinen, durch eine meist erkennbare oder zumindest zu erahnende Assoziationskette miteinander verbunden. Als Else bespielsweise die Klaviermusik aus dem Musikzimmer hört wird der Wortfluss von kurzen Partiturstücken unterbrochen. Else spielt selbst Klavier und so ist es vorstellbar, dass sie die Musik in Form von Noten in ihrem Kopf visualisiert. Andererseits können diese Einschübe auch als kritischer Hinweis verstanden werden, dass ungewiss ist, ob man wirklich in Worten denkt, so wie gewöhnliche Menschen Musik schließlich auch nicht in Partituren “denken”.

Die Novelle endet mit Elses Tod durch eine Überdosis Schlafmittel. Dieses Ende zeigt uns gleichzeitig auch die Grenzen der inneren-Monolog-Erzählhaltung auf – der Leser kann der Protagonistin nicht bis in den Tod folgen, da zur Weiterführung der Gedankenkette ein Subjekt notwendig ist.

Das Buch hat mir gut gefallen. Ich weiß nicht, ob es an der gewählten Erzähltechnik liegt oder an meiner persönlichen Disposition zu übertriebener literarischer Empathie, jedenfalls war es für mich ziemlich einfach, mich in Else hineizuversetzen. Ich war selbst überrascht, wie gut diese Novelle, in der es um den – überholt anmutenden – Konflikt zwischen Familienehre und eigener Würde geht, auch heute noch funktioniert.
Ich kann und möchte mich zwar nicht dazu äußern, wie dieser Konflikt zur Entstehungszeit der Novelle bewertet worden sein mag, aber für den modernen Leser ist klar, dass die eigene Würde in diesem Konflikt für gewöhnlich Priorität hat.
Oder?

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